Lebendige Erde 2/2002:

Feld & Stall

Eigene Tierzucht für den Ökolandbau
Die Agrarwende bietet die Chance, in Praxis und Forschung umzusteuern

Anita Idel

Die Forschung für den Ökolandbau hat Nachholbedarf, auch bei der Züchtung
Bauernverbandspräsident Sonnleitner beklagt, die Agrarwende würde alle (Forschungs)-Gelder in den Bio-Landbau umleiten. Doch liegen die Tatsachen anders: Die staatliche Forschungsförderung für den biologischen Landbau war in der Vergangenheit so gering dass enormer Nachholbedarf besteht. Die staatlichen Institute - mit Ausnahme von Trenthorst - treiben weiterhin problematische Entwicklungen der konventionellen Landwirtschaft einseitig voran. AgraringenieurInnen und TierärztInnen an den Universitäten werden auch weiterhin nicht umfassend für die Erfordernisse des biologischen Landbaus ausgebildet.

Abb.: Besamung


Die Fortführung der bisherigen Agrarforschung begünstigt insbesondere die weitere Spezialisierung der Tierhaltung, z.B. die Beschränkung auf alleinige Ferkel- oder Kälberaufzucht, oder nur Endmast.... Sie ist der wesentliche Grund für die zunehmenden Tiertransporte. Darüber hinaus erhöht das allgemein steigende Transportaufkommen in der Landwirtschaft wesentlich die Krisenanfälligkeit. Beispielsweise schafft die weitere Forschung an Fortpflanzungstechniken wie Künstliche Besamung, Embryotransfer und, aktuell die Geschlechtswahl bei Spermien und Embryonen sowie das Klonen, Voraussetzungen für eine dramatische Zunahme der Spezialisierung von Betrieben.(1)

Auch wenn weiterhin erheblicher Bedarf für eine Negativ-Kritik dieser Verhältnisse besteht, liegt die aktuelle Chance darin, Schwerpunkte der Forschung zum Positiven auszurichten. Die Agrarwende wird auch am Erfolg ihrer Lösungsansätze gemessen werden. Heute müssen die Fragen für die Antworten von morgen gestellt und daraus Forschungsprojekte formuliert werden. Das gilt u.a für die Tierzüchtung.
 

Für Ökobetriebe: Züchtungsziele auf den Kopf stellen?!
Während es bei der Umstellung auf biologischen Landbau inzwischen möglich ist, von einer zur anderen Vegetationsperiode anderes, biologisches, Saatgut zu verwenden, stehen derweil immer noch - mehr oder weniger - dieselben Kühe im Stall. Das ist einerseits gut so. Aber wenn die Kühe dann nicht so richtig zum Standort passen, der nun unter biologischen Bedingungen bewirtschaftetet wird, führt das zu gesundheitlichen Problemen. Bisher stammen die Tiere auf Bio-Betrieben hauptsächlich aus der konventionellen Tierzucht, die durch extreme Inzucht einseitig auf Hochleistung selektiert. Die Folge liegt neben Krankheitsanfälligkeit durch allgemeinen Vitalitätsverlust vor allem in der zunehmenden Gefahr durch Erbkrankheiten. Eine besondere Gefahr geht von den sogenannten rezessiven Erbkrankheiten aus: Sie kommen erst zum Ausbruch, wenn die krankhaften Anlagen von beiden Elternteilen, den sogenannten Anlageträgern, auf ein Kalb vererbt werden. Da Besamungsbullen nicht selten über 100 000 und in Einzelfällen sogar über 1 Million Nachkommen haben, erhöht sich das Risiko enorm, dass äußerlich gesunde Anlageträger miteinander gekreuzt werden. Auch ein in Zukunft steigendes Angebot an Gentests für Anlageträger wäre nur ein schwacher Trost, solange die Ursache - die einseitige und extreme Selektion - nicht beseitigt wird. (siehe Kasten)
 

Einseitige Züchtung - gehäufte Missbildungen
Bereits seit Oktober 1999 nahmen in Dänemark Berichte über Missbildungen bei Aborten von Föten sowie früh-, tot- und neugeborenen Holstein Friesen-Kälbern zu. Die tödliche Erbkrankheit (CVM = Complex vertebral Malformation) deformiert insbesondere die Wirbelsäule. Anfang 2000 galten zunächst ("nur") die Bullen KOL Nixon (DK234042) mit 127 000 und T Burma (DK 230104) mit 340 000 Besamungen als Anlageträger. Anfang 2001 konnte der frühere US Holstein Elite-Bulle Carlin-M Ivanhoe Bell (7H543) als häufiger Vater von Defektkälbern identifiziert werden. (70% des dänischen Holstein-Bestandes führen Bell-Blut). Mitte 2001 wurde bekannt, dass auch sein Vater, der berühmte Penstate Ivanhoe Star, Träger des Gendefektes ist. Seit August 2001 verfügen die Zuchtverbände über einen Gentest, der ab dem 1.1.2002 in Deutschland für alle Bullen obligatorisch ist. Die Zuchtverbände wollen aber keineswegs alle ihre positiv - das heißt krank - getesteten Spitzenbullen bzw. deren Samenportionen aus der Zucht nehmen: Beim schleswig-holsteinischen Rinderzuchtverband ist zu lesen, dass "man mit den CVM-Trägern vorsichtig operieren und sie keinesfalls an eine Blutlinie anpaaren (sollte), die Bell im Pedrigee hat. Grundsätzlich sollte der Einsatz von CVM-Trägern nur auf Wunsch des Landwirtes erfolgen." Die Samenbankbesitzer sind für die weitere Ausbreitung der Krankheit verantwortlich, denn sie erhöhen das Risiko für die gesamte Population wie auch jene Landwirte, die auf die Milchleistungsvererbung dieser Spitzenbullen nicht verzichten wollen!
 


Immer noch gibt es kaum Tierzucht-Initiativen für Ökobetriebe. Die Forderungen aus dem Bio-Bereich gegenüber der Zuchtwertschätzung der Rinder beschränken sich bisher meistens darauf, im Rahmen eines Gesamtzuchtwertes mehr Bedeutung auf die Nutzungsdauer - und somit auf die Gesundheit zu legen. Es liegt nahe, einen Bullen vorzuziehen, dessen Töchter längere Nutzungsdauern aufweisen als der Durchschnitt. Aber die Möglichkeit, in Besamungskatalogen selbst einen Bullen auswählen zu können, täuscht über die künstlichen - das heißt standortunabhängigen - Bedingungen hinweg, unter denen seine Leistungen bzw. die seiner weiblichen Verwandten zustande gekommen sind. Den wichtigsten künstlichen Einfluss hat der große Kraftfuttereinsatz. Zum Spitzenbullen wird der, dessen weibliche Nachkommen bei hohem Kraftfuttereinsatz hohe Milch-Leistungen erbringen und länger durchhalten als der Durchschnitt.

Abb.: Natursprung 

Somit gibt uns die derzeitige Zuchtwertschätzung nicht die geringste Auskunft darüber, wie denn die Bullen einzustufen wären, wenn nur die Prüfdaten von Kühen berücksichtigt würden, die ihre Milchleistung maximal aus dem Grundfutter erbringen und nicht im ernährungsphysiologischen Sinne "zur Sau" gemacht werden. Experten und Expertinnen des VIT vermuten, dass dann die TOP-Ten-Liste ihrer Spitzenbullen auf dem Kopf stehen würde. Das VIT (Vereinigte Informationssysteme Tierhaltung) in Verden unterhält den weltweit größten Datenpool zu Milchvieh. Kurzfristig wäre schon einiges erreicht, wenn die Computerprogramme für die Zuchtwertschätzung zukünftig Bio-Betriebe gesondert ausweisen könnten. Da sich die Fütterungspraxis auf den Bio-Betrieben teilweise gravierend unterscheidet, kann dadurch die Eignung des betreffenden Bullen für den eigenen Betrieb allerdings nur in Grenzen besser eingeschätzt werden.

Problematisch bleibt aber, dass sich bisher die Auswahlmöglichkeit auf (Besamungs)-Bullen beschränkt, die alle von Kraftfutter-Müttern abstammen: Sie sind aufgrund der übermäßigen Gewichtung der Erstlaktation, bis hin zum Kriterium "100-Tage-Leistung" selektiert worden. Diese Herangehensweise wird durch den Glaubenssatz gerechtfertigt, Leistung sei Ausdruck von Gesundheit. Das kann zwar, muss aber nicht sein. Für die einseitig auf Hochleistung selektierten Kühe gilt, dass sie trotz der Bedingungen hohe Leistungen erbringen und nicht wegen dieser! Hinsichtlich der für den biologischen Landbau wichtigen Parameter gilt es zu klären:

  • Welche Parameter sind beim VIT bereits vorhanden, müssen aber ggf. in der Zuchtwertschätzung (ZWS) anders gewichtet werden?
  • Welche Parameter müssen zusätzlich erhoben werden und in die ZWS einfließen?

Das kann der beste Bulle nicht verhindern...
Soviel durch eine Zuchtwertschätzung nach Bio-Kriterien auch erreicht werden kann, auch von Bio-Bullen sollten keine Wunder erwartet werden. Kein Weg führt an der Notwendigkeit einer realistischen Einschätzung des jeweiligen Standortes vorbei, ehe Zuchtziele für den eigenen Betrieb definiert werden. Das betrifft insbesondere die natürliche Futtergrundlage und in diesem Zusammenhang die Besatzdichten, aber auch die eigenen Fähigkeiten, gute Futterqualitäten zu bergen.

Die Aufzucht des Jungviehs ließ schon immer zu wünschen übrig, zumal seine Haltung auf den entlegeneren Weiden betriebsplanerisch naheliegend ist. Leider werden Rinder aber nicht selten so knapp gehalten, dass diese Versäumnisse in der Kälber- und Jungviehaufzucht häufig später nicht wieder aufholbar sind. Auch der beste Bulle kann nicht verhindern, dass zu mager gehaltene Färsen besonders geringe Einstandsleistungen aufweisen.

Es gilt, für jede Herde auf dem jeweiligen Standort, dazu zählen neben Boden und Klima nicht zuletzt auch die Tiere und die dort Arbeitenden, das Optimum hinsichtlich der Milchleistung herauszufinden. Zu oft wird die Kuh aber wegen der ökonomischen Zwänge vom Schwanz her aufgezäumt: Dann wird das Ausnutzen bzw. Erreichen der Quote zum ersten Gebot. Die meisten Betriebe bieten aber unter ökologischen Ansprüchen, das heisst ohne Kraftfuttergaben, gar keine realistische Grundlage für eine weitere Steigerung der Leistung, sodass die Wahrnehmung auf andere wichtige Zuchtziele orientiert werden kann: So sollen gute Raufutterqualitäten die Basis für eine züchterische Selektion auf optimale Raufutterverwertung bieten. Die Milchviehzucht soll gesunde und vitale Tiere mit nach und nach längeren Nutzungsdauern hervorbringen. Gespart wird dann an tiermedizinischen Aufwendungen ebenso wie an der Milch, die zuvor zu häufig wegen Euterentzündungen weggeschüttet werden musste.
 

Gesucht: sympathische Vatertiere
Neben der Grundfutterverwertung - das Rind ist ein Verdauungstier - und der Vitalität sollte der Langlebigkeit auch deshalb mehr Bedeutung zukommen, weil kurze Nutzungsdauern die Entwicklung tragfähiger Herdenstrukturen verhindern: Der häufige Wechsel der Rangordnung bedeutet Stress. Zudem sollte dem Wesen und Verhalten der Rinder auch züchterisch mehr Aufmerksamkeit zukommen - das Rind ist ein Herdentier. Auch die Verträglichkeit von Kühen und Bullen innerhalb der Herde ist eine Qualität, die es züchterisch zu entwickeln gilt.

Aber da fehlt noch etwas: der Mensch - als nicht minder wichtiger Standortfaktor. Vielleicht passen Schweine hervorragend zu meiner Gemüseproduktion, aber passe ich auch zu ihnen, mag ich sie riechen? Keine Frage, dass mein Grünlandstandort ohne Rinder verwaisen und veröden würde, aber habe ich eigentlich wirklich Lust zum Melken? Wer eine Herde mit Tieren aus verschiedenen Rassen hält, entwickelt bekanntlich Vorlieben - je nach dem eigenen Wesen und Temperament. Bei der Auswahl von Rassen und Tieren für den eigenen Betrieb müssen wir zudem die jeweilige Familie bzw. Gemeinschaft im Blick haben. Wir wünschen uns Umgänglichkeit von Kühen und Bullen dem Menschen gegenüber und können die Chance nutzen, nicht nur auf der persönlichen sondern auch auf der zuchtpolitischen Ebene, auf diese Kriterien hin zu selektieren. Kurzfristig sollte entschieden werden, wer diesem Weg dienlicher ist: die herkömmlichen Zuchtverbände oder ein ökologischer Zuchtverband.
 

Heu, Gras und Wasser...
Grundsätzlich gilt es, geeignete Rinder-Rassen für den Bio-Landbau zu identifizieren. Neben der Berücksichtigung von Rassen, die vom Aussterben bedroht sind, sollte das Hauptinteresse am Potenzial der Rassen mit großen Populationen orientiert sein. In der Schweine- und Geflügelzucht geht es darüber hinaus um die Gretchenfrage: Soll die Bio-Tierzucht abhängig bleiben von industrieller Hybridproduktion? An dieser Abhängigkeit würde sich ja nichts ändern, wenn nun Bio-Hybride (für mich in der Tierzucht ein Anachronismus) erzeugt werden, die mit den Bedingungen des Bio-Landbaus besser zurecht kommen, ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, standortorientiert zu selektieren. Hingegen können Gebrauchskreuzungen im Einzelfall durchaus ihre Berechtigung haben. Aber der Normalfall muss sein, dass die Tiere innerhalb ihrer jeweiligen Rasse gekreuzt werden (können) und die Individuen auf den Höfen verfügbar sind. So gilt es bei Schwein und Geflügel über die Zucht mit bedrohten Rassen hinaus festzustellen, was anstrebenswert und züchterisch machbar ist. Eine Option liegt im Import von Populationen, zum Beispiel in Kooperation mit Osteuropa. Der Kauf größerer Tierzahlen darf dabei den Herkunftsländern dieser tiergenetischen Ressourcen nicht nur nicht schaden, sondern muss letztlich der züchterischen Entwicklung international zugute kommen.

"Gras, Heu und Wasser" lautet das Rezept von Renate Künast für die Ernährung der Rinder, deren Wahn sie zur Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft machte. Eigentlich hat sie recht. So recht wie die einstigen Vorfahren des Bauernverbandspräsidenten, die sich von der Sonne leiten ließen. Eine weitere schöne Anleitung fand ich auf einer Hauswand in Weimar während der Forschungsring-Tagung im November 2001: "Die Theorie ist nicht die Wurzel, sondern die Blüte der Praxis", - packen wir's an.

Dr. Anita Idel, Tierärztin, Forschungs- und Projektkoordination, Ganzheitliche Tiergesundheit, Anita.Idel@FiBL.de
FibL Berlin e.V., Rungestraße 19, D-10179 Berlin, fax 030 27 58 17 59, www.fibl.de

1) Vorhaben zur Geschlechtswahl werden - auch - mit angeblichen Tierschutzgründen gerechtfertigt: Danach würde sich beispielsweise eine Herodesprämie zur Tötung männlicher Kälber von Milchleistungsrassen erübrigen, wenn (fast) gar keine männlichen Kälber mehr geboren würden. Tatsächlich verfestigen aber eben diese Techniken die problematische züchterische Entwicklung und machen sie zunehmend weniger umkehrbar.
 
In einem Beitrag zur gleichen Frage weist Demeter- Berater Christoph Metz auf zwei rasch machbare Schritte hin: kleine regionale Arbeitskreise von biodynamischen Züchtern und Ausdehnung der Stierhaltung. ("Brauchen wir eine ökologische Rinderzucht", im Rundbrief Februar 2002, Demeter- Bayern, erhältlich bei der Redaktion)