Lebendige Erde 5/2000:

Biodynamisch

Brot entwickeln

Lebensmittelhersteller brauchen neue, ganzheitliche Wege

Dr. Alexander Beck,
Lebensmittel & Qualität,
Zum Pilsterhof 6,
97789 Oberleichtersbach

Die meisten Lebensmittel werden heute in verarbeiteter Form gegessen. Die Arbeitsteilung in der Gesellschaft macht weder vor dem privaten Haushalt noch vor der Gastronomie halt. Die meisten Menschen haben heute keine "Zeit" mehr, aufwendig Lebens.mittel.roh.waren aufzuarbeiten und gekonnt zuzubereiten. Da ist der Griff zu der Tüte DEMETER-Pommes schlicht einfacher und auch nicht der Ausdruck individueller Dekadenz sondern vielmehr Spiegel der Zeitrealität, der sich niemand wirklich entziehen kann und muss.

Die Öko-Branche steht heute vor der Aufgabe, das Thema "Ökologische Verarbeitung von Lebensmitteln" neu zu definieren. Im Moment lebt die Branche noch von gedanklichen Auslaufmodellen. Die Vollwertigkeit der Produkte ist zunehmend in Frage gestellt und viele Hersteller gehen freizügiger mit Zusatzstoffen um. Neue Hersteller im nun ökonomisch reifen Markt üben einen Druck auf den Gesetzgeber und die Verbände aus. Aufgefangen werden kann diese Situation nur durch Begeisterung an neuen Ideen und Ansätzen, die inhaltlich in der Verarbeitung umgesetzt werden und die Menschen berühren. Zukunft wird gestaltet und nicht verteidigt!

Abb.: Brot nach Demeter-Richtlinien: Aus dem Mehl das Beste machen ohne Griff in die Hilfsmittelapotheke

Das Demeter-Leitbild für Lebens.mittelverarbeitung (Forschungsring für Biologisch Dynamische Wirtschaftsweise 1997 (1)) ist ein Versuch, einen solchen Ausblick zu geben. Neu geschöpft wird hier der Begriff "entwickelnde Ver.arbei.tung": "Es sollen Ver.arbei.tungs.methoden gewählt bzw. entwickelt werden, die Lebensmittel gemäß ihrer Eigenarten für den Menschen zugänglich machen und die Lebenskräfte der Lebensmittel erhalten oder möglichst fördern (entwickelnde Verarbeitung)". Wei.ter im Text werden Hinweise gegeben, was Prämissen einer solchen "Entwicklung" sein sollen.

"Das Ziel der Verarbeitung zu DEMETER Lebensmittel ist es, die ursprünglichen Eigenschaften und Qualitäten zu erhalten oder im Sinne einer Veredelung zu entwickeln. Neue DEMETER Lebensmittel sind das Resultat eines Gestal.tungs- und Kombinationspro.zes.ses der ursprünglich in den Lebensmitteln vorhandenen Eigen.schaften. Die Produktgestaltung von Demeter Lebensmitteln soll am anthroposophischen Menschen- und Weltbild orientiert sein und in diesem Sinne einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschen leisten."

Das heißt natürlich nicht, dass nur der anthroposophisch gebildete Mensch sich dem Thema "entwickelnde Verarbeitung" widmen kann. Gerade der Praktiker in der Le.bens..mittelverarbeitung hat die Chance, intuitiv den richtigen Weg einzuschlagen. Die Auseinandersetzung mit dem Rohstoff und den konkreten Prozessen kann dem, der sich darauf einlässt, bereits ein guter Weg sein. Erlebbare Beispiele hierfür sind viel ausgezeichnete Produkte, die meist aus handwerklicher Herstellung stammen.

Doch was heißt das konkret, "entwickelnde Verarbeitung"? Wer entwickelt da was für wen? Am Beispiel der Herstellung von Brot soll verdeutlicht werden, was gemeint ist. Der Demeter-Bäcker Konstantin Meßmer formuliert es so: "Brot backen kann in Fortführung des Fruchtbildungsprozesses als Erzeugung einer "Kulturfrucht" betrachtet werden" (2). Der entscheidende Punkt ist damit schon angesprochen: Wie muss sich der Mensch in den Werdeprozess einbringen, damit etwas "entwickelt" wird? Letzteres kann im Sinne von "weitergebracht" und "fortgeführt" verstanden werden.
 

Die folgenden Aspekte sind meines Erfahrung nach wesentlich in Bezug auf die Entwicklung eines "Lebensmittels":
  • Im System arbeiten,
  • Integrität wahren,
  • Individualisierung anlegen,
  • kulturelle Funktion beachten. (3)
Diese werden nun auf das Beispiel der Herstellung eines Brotes angewendet.

Der Bäcker arbeitet mit Wasser, Salz, Getreide, Mikroorganismen, Zeit, mechanischer Energie und Wärme. Diese Zutaten werden aber nicht bloß irgendwie zusammen gemischt und dann entsteht ein Brot. Vielmehr werden diese in ganz bestimmter Reihenfolge kombiniert und über verschiedene Stufen unterschiedlich lange und bei unterschiedlicher Temperatur und Zusammensetzung durch die Mikroorganismen zu etwas primitiv lebendigem erhoben. Dessen Lebendigkeit wird modelliert. Aus diesen Vorbereitungen entsteht die eigentliche Zutat z.B. der Sauerteig. Diese "neue", primitiv lebendige Zutat wird dann, mit neuem Mehl und Salz durchmischt und geknetet. Im nächsten Schritt wird das Produkt geformt und nach erneuter Stehzeit, d.h. Zeit zur Ausprägung des primitiv Lebendigen, bei hoher Temperatur gebacken. Die Lebensprozesse werden durch Hitze abgetötet! Dies ist die Grund.geste jeglicher Brotbereitung.

In hervorragender Weise sind die obigen Grundsätze abzulesen. Das Lebensmittel Getreide in der Darreichungsform als Schrot oder Mehl ist normalerweise selbst "fähig", mit seinen Umweltbedingungen die notwendige Gärung einzuleiten. Kulturen und genaue Führungsparameter sind nicht Initiator der Entwicklung, sondern modellieren diese. Das ist Entwicklung im System Getreide. Gleichzeitig wird durch diese Anlage des Prozesses auch die Integrität des Kornes gewahrt. Die in dem Korn angelegten Fähigkeiten werden über den Prozess der Auflösung durch das Mahlen und die Mehlbearbeitung verwandelt und bestimmen dennoch in "neuen Form" den darauf folgenden Ablauf. Das, was das Brot nachher ist, ist das verwandelte und in eine neue Gestalt und Ausdruck gebrachte Korn.

Durch die Verlebendigung im Teig..bereitungsprozess kann jede Teigcharge und letztendlich jedes Brot in gewisser Weise ein eigenes Profil, eine eigene Individualität ausprägen. Die unendliche Vielfalt der möglichen Brotvarianten ist das beste Indiz für die ungeheure Anpassungsfähigkeit der Idee des Brotes. Kulturell gesehen ist Brot eine der größten Errungenschaften, in seiner Vielfalt und Variationsfähigkeit einmalig in seiner Stellung für den Menschen, Lebensmittel zentral und bis tief ins Religiöse verankert: "unser täglich Brot gib uns heute".

Konstantin Meßmer folgert zurecht: "Brot ist also die Frucht, die aus der Hand des Bäckers entsteht". Der Bäcker ist insofern sehr viel mehr dem Bauern verwandt als dem Schmied. Erster leitet die Natur damit diese etwas angelegtes hervorbringt, der Zweite ist Former, da geschieht nichts von alleine.
 

Aber Vorsicht, man kann Backwaren auch ganz anders herstellen. Beispielsweise allerlei Zusatzstoffe verwenden, den Trieb mit Car.bo..na..ten bewerkstelligen, die Produkte technisch standardisieren, nur mehr aufgebackene Frostlinge einsetzen, extrem kurze Hefefüh.run.gen bei hohen Dosen an Hefe realisieren, "Sauer.teig.brote" mit dem Zusatz von organischen Säuren und Hefe herstellen. Auch das sind Wege zu Backwaren , doch geht es hier nicht darum, aus dem Rohstoff heraus einen Werde.pro.zess zu ermöglichen, sondern um das Erfüllen gegebener Produktbilder mit fast allen Mitteln. Das Produkt muss die Illusion vermitteln, als "wäre es ein Sauerteigbrot" oder ein "frisches Hörnchen", ein Ansatz, der leider sehr modern ist.

Nicht nur die Herstellung von Back..waren eignet sich als Beispiel und zukünftiges Übungsfeld für "entwickelnde Verarbeitung". Viele andere Lebensmittel werden mit Hilfe von Mikroorganismen fermentiert, man denke an Milchprodukte, Gemüse, aber auch Fleisch und Wurstwaren, Wein. Bei diesen Lebensmitteln gibt es ähnliche Mög.lichkeiten der "Verwandlung", wie am Beispiel Brot verdeutlicht. Eine andere Ausrichtung ist möglich durch das gezielte Nutzen und Steuern von physiologischen Prozessen. Bei Getreide und anderen Samen kann man am ganzen Korn schon sehr viel in Bewegung bringen allein durch Wärme und Feuchtigkeit, es entstehen ganz neue Produkte bzw. Zutaten. Viele weitere Beispiele wie z.B. Teefermen.ta.tion, Fleischreifung beruhen darauf. Entwickelnde Verarbeitung beschränkt sich jedoch keineswegs auf die biotechnologischen Prozesse. Gerade auch Produkte, die vielfältig zusammengestellt werden, bieten Möglichkeiten aus den Rohstoffen etwas "Schönes" auf einer neuen Entwicklungsstufe zu schaffen. Hier wirkt der Mensch als Gestalter fast wie im künstlerischen Sinne. Das Produkt erlangt in Aufbau, Form, Aussehen, Geschmack und Geruch und in Bezug auf die Kombination der Fähigkeiten der Zutaten eine Harmonie die dem Esser ein harmonischen Gesamteindruck vermittelt.

Es ist eine Chance, Lebensmittelherstellung weniger als technischen Formprozess vom Ergebnis her sondern vielmehr als Prozess des Modellierens von "Naturvorgängen", von in den Lebensmitteln angelegten Fähigkeiten zu begreifen. Dann kann auch der Kulturimpuls auf einem möglicherweise künstlerischen Niveau hinzutreten. Nicht alle, aber viele Herstel.lungs.prozesse von Lebensmittel lassen sich so betrachten. Neue Stand.punk.te schaffen neue Heran.ge.hens.wei.sen und neue Produkte.
 

Literatur:
(1) Forschungsring für Biologisch Dynamische Wirtschaftsweise 1996 "Demeter Leitbild Lebensmittelverarbeitung"
(2) Meßmer K. 1997 "Qualitätsmaßstäbe für Vollkornbackwaren" Lebendige Erde 3/1997
(3) Beck A. 1998 "Lebensmittel der Zukunft Ökologische Aspekte zur Produktentwicklung" Lebendige Erde 4/1998